Der böse Wirt oder Die Kunst des Verdrängens

In Krippenspielen begegnet uns nicht selten ein hartherziger Wirt aus Bethlehem, der angesichts der offenkundigen Armut des Zimmermanns Joseph von Nazareth und seiner schwangeren Begleiterin die beiden einfach von der Schwelle weist. Seit Jahrhunderten wird Kindern von Generation zu Generation fast so etwas wie Entrüstung über die Verweigerung der Gastfreundschaft weitergegeben, obwohl nach der vergeblichen Herbergsuche – und das sei betont – die Geburt Jesu im nahegelegenen Stall ohne Zwischenfälle vonstatten ging und die „Heilsgeschichte“ beginnen konnte.

Der jüngste Bericht der Welternährungskommission stellte in den ersten Novembertagen lakonisch fest, dass täglich zwanzigtausend Kinder verhungern. Während seit Wochen die grausame, aber spektakuläre, weil medienwirksame Gewalt in New York und Afghanistan die Medien überschwemmt, wurden der unfassbaren Hungertodstatistik bestenfalls 120 Sekunden gewidmet. Wir haben mit der Ungeheuerlichkeit der stillen Gewalt zu leben gelernt, holen uns mit Spenden von Zeit zu Zeit ein abgebrühtes Gewissen, bekommen vom Bundeskanzler die Bezeichnung „christliche Wertegemeinschaft“ an die Brust geheftet und sind einzigartige Meister im Verdrängen geworden. Der erklärende Hinweis, dass in der New Yorker Terror-Orgie und im afghanischen Kriegsgeschehen die Urheber der Zerstörung konkret erkennbar seien, die Hungerstatistik aber abstrakt bleibe, geht ins Leere, denn auch im Falle der täglich 20000 verhungernden Kinder sind die Ursachen konkret: Es sind die maßlose Verteilungsungerechtigkeit der Güter dieser Welt und die Tatsache, dass für Rüstung und Zerstörung ein Vielfaches von dem ausgegeben wird, was den Hungertod unschuldiger Kinder verhindern und schulische Bildung für alle ermöglichen könnte. Bilder von Terror- und Kriegstoten gelangen tagtäglich ins Wohnzimmer, die Täter sind fern und leicht identifizierbar; Bilder vom stillen Tod in Afrika oder anderswo sind selten zu sehen, sie könnten in Frage stellen, was nicht in Frage gestellt werden darf.

Angesichts dieser bitteren Realität ist unsere Entrüstung über die Hartherzigkeit des Wirten aus Bethlehem – zumindest erstaunlich. Ob künftige Generationen sich über unsere Steinherzigkeit entrüsten werden? Vielleicht. Aber dann wird es zu spät sein, ähnlich zu spät wie damals, als Männer und Frauen der Kriegsgeneration über den Abgrund des Holocaust zu klagen begannen, obwohl alle davon hätten wissen können.

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