Gertraud Klemm: Mutter auf Papier

„Blut ist Blut, und Papier Papier“
„Mutter auf Papier“ – eine mutige Auseinandersetzung mit Infertilität und Adoption

 „Ich bin dermaßen von meinem Leben abmontiert, dass es fast schon wehtut.“ (S. 55) Diesem Befund begegnen wir in Gertraud Klemms „Mutter auf Papier“. Gemeint ist der Schmerz einer Frau, die akzeptieren muss, dass sie kein Kind wird gebären können.
Die Badener Autorin Gertraud Klemm, 2008 mit dem Anerkennungspreis für Literatur der Stadt Baden ausgezeichnet, stellt sich nach dem Erzählband „Höhlenfrauen“ (2006) mit ihrem neuen Text einem Tabu-Thema unserer Gesellschaft: Was bricht über eine Frau und ihre Partnerbeziehung herein, wenn Sterilität oder Infertilität den Weg zur leiblichen Mutterschaft versperrt und die Entscheidung für eine Adoption eines Kindes aus Afrika folgen lässt? Dabei wird keine Facette dieses emotionalen und sozialen Prozesses ausgespart: im Zentrum die krisenhaften Erschütterungen und Kämpfe der betroffenen Frau, verflochten mit den einhergehenden Belastungen der Partnerbeziehung, den hilflosen bis verletzenden Reaktionen der Freunde und einer kalten, mechanistisch vorgehenden Medizin – all das umgeben von der ignoranten Wand einer Gesellschaft, die nur eines kennt und akzeptiert: die Norm, in diesem Fall die leibliche Mutterschaft.

„Bei der Zwischenlandung in Frankfurt geht Europa los. Die letzten Schwarzen aus unserem Flieger versickern im Flughafen, und der Grenzbeamte taucht raschelnd in unsere Papiere ein. Ich stehe da, halte das Kind und werde von der länger werdenden, weißen Warteschlange angestarrt. Als wären wir nackt. Einer schüttelt den Kopf. Wir sind daheim.“ (S. 84)

„Mutter auf Papier“ behandelt somit eine Form des Anders-Seins, die literarisch bislang kaum ein Echo gefunden hat, und schlägt dabei immer wieder auch emanzipatorische Töne an:

„Also bin ich viele Ersatzhandlungen. Ein multifunktionelles Weibchen. Die Unterhalterin aus Pappe, die Späße macht und nach dem Fest wieder zusammengefaltet und unter einer Plane im Gartenhäuschen verstaut werden kann. Die Arbeitsmaschine, die man auch während der Weihnachtsfeiertage anstecken und in Betrieb nehmen kann. Die Modepuppe, die dem marktwirtschaftlichen Diktat auf den Leim geht und die Wirtschaft belebt.“ (S. 65)

Das Buch erzielt Wirkung, hinterlässt Spuren. Es bezieht seine Kraft nicht bloß aus der mutigen Themenwahl, sondern vor allem aus dem kreativen Ineinander verschiedener Textsorten und seiner sprachlichen Form. Überschriften wie Leben, Freunde, Körper, Favoriten, Fakten oder Traum ziehen stilistische Verfahren nach sich, die die jeweilige Schreibintention direkt in Sprache umsetzen: Da finden sich sachliche und persönliche Berichte, montageartige Aufzählungen von Zitaten und Assoziationen, monologartige Bekenntnisse und Elemente der Bewusstseinsstromtechnik. Überlagert ist diese Vielfalt an sprachlichen Verfahren von einer Palette von Tönen, die von sachlicher Kälte über tiefste Betroffenheit, innige Offenheit bis zu bitterer Ironie reicht. Und immer wieder blitzt eine erstaunliche sprachliche Kraft in den Zeilen auf:

„Der Morgen bleich und feucht. Ich laufe den Hügel hinab. Der Körper schlägt am Asphalt auf, Regenwasser spritzt von den Sohlen, ich fliege hinab, Kürbisse faulen, die Luft saftig in den Lungen, Messer springen aus der Brust, der Wald nimmt mich in die Arme.“ (S. 52)

Vor allem in den emotional dichten Passagen findet Gertraud Klemm Metaphern von großer Intensität und Treffsicherheit:

  • „Ich wende den Blick ab. Die Worte gehen uns aus, die Währung wird gewechselt. Jetzt zahlen wir mit Schweigen.“ (S. 10)
  • „… mein Gesicht bemüht sich, es gibt sein Bestes (…) und gibt Acht, dass Gefühltes hinter dem Damm bleibt. Das Gesicht muss fest auf der Bremse stehen. Sonst quillt alles hervor.“ (S. 63)
  • „Unter den Sätzen lauert lückenlos Entmündigung.“ (S. 87)

Textstellen wie diese lassen beim Lesen innehalten, verlieren sich nicht so rasch im Gedächtnis und belegen die sprachschöpferische Kraft der Autorin.
„Mutter auf Papier“ ist ein literarisch kreatives Dokument, das Aufmerksamkeit verdient: Hier ist einer Autorin ein mutiger Text gelungen, der ein wichtiges Thema aufgreift, mit vielfältigen sprachkünstlerischen Verfahren beeindruckt und in seiner radikalen Offenheit besticht.
Dieses überzeugende Resümee wird von dem Mangel eines ziemlich sorglosen Lektorats nur peripher getrübt.

Herbert Först

 Textprobe:

„Afrika. Im Waisenhaus drückt mir die große dicke Zulufrau das Kind in die Arme. Now you try, sagt sie. Es ist viel größer als ein Brot. Es ist schwer. Es hat glänzende Lippen und anthrazitfarbene Augen. Sein Blick ist älter als sein Körper. Jede Afrikanerin in diesem Land passt besser zu dem Kind als ich, denke ich. Unsere Häute sind Morgen und Abend. Mein Mann ist mit Ausnahme eines zugezwickten Auges hinter der Videokamera versteckt. Wir sind zu dritt alleine. Meine Arme wachsen um das Kind herum. Wurzeln wachsen zögernd. Ich werde mutiger, gierig. Unser Herz beginnt zu schlagen.“ (S. 81)

 

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