Von der Selbstwahrnehmung zum Bühnenstück – Gedanken zu Arthur Schnitzlers „Reigen“

Von der Selbstwahrnehmung zum Bühnenstück
Gedanken zum Reigen.im.park-Dialog 2013

 Der Sekundararzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus Dr. Arthur Schnitzler ist 24, als er im Juni 1886 knapp, aber aussagekräftig in sein Tagebuch schreibt: „Kuwazl ist in Baden und hat ein Riesenglück bei den Weibern.“ Kuwazl, das ist ein gut aussehender junger Mann, Arthur Schnitzlers Schulkollege Richard Tausenau, Student der Rechte und Einjährig-Freiwilliger bei den Hoch- und Deutschmeistern. Schnitzler, den es damals häufig zur Hoteliersgattin Olga Waissnix nach Reichenau zieht, ist jung genug, um sich von den „Erfolgsmeldungen“ seines Freundes Kuwazl nach Baden locken zu lassen, wo in den folgenden zehn Jahren einige amouröse Abenteuer auf ihn warten. Diese verlaufen nicht ohne Qualen für ihn, der zunehmend den Schriftsteller in sich entdeckt und diesen sich entfalten lässt. Als solcher entlarvt er zwar die gängige Sexualmoral, ist selbst aber in Sachen Erotik ein Kind seiner Zeit und ziemlich hilflos Eifersuchtsattacken ausgeliefert, wenn er sich der Treue einer neuen Geliebten nicht sicher ist.
Marie Chlum, die sich als Schauspielerin Marie Glümer nennt und im Sommer 1891 am Theater in Baden engagiert ist, wird so ein „Fall“. Er lässt den jungen Mann schmerzhaft erleben, dass er alles andere als frei von den kritikwürdigen Verhaltensmustern seiner literarischen Figuren ist. Die Schule des Lebens erweist sich als hart, aber höchst lehrreich, denn sie führt den Autor und Arzt zu tiefen Erkenntnissen, die in der Metropole der Monarchie entsprechend wahrgenommen werden.
In seinem legendären Brief an Arthur Schnitzler vom 14. Mai 1922 – der Autor steht vor seinem 60. Geburtstag – gesteht sich der Psychoanalytiker Sigmund Freud ein, dass der Schriftsteller und „psychologische Tiefenforscher“ Schnitzler „durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung“ alles das weiß, was er, der Forscher, „in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt“[1] hat. Fruchtbares und zugleich schonungsloses Instrument dieser Selbstwahrnehmung ist das Tagebuch, das Schnitzler konsequent, mutig und ehrlich über Jahrzehnte führt. Die fast täglichen Eintragungen belegen immer wieder eine atemberaubende Leidenschaft zur Selbstanalyse, und das auch auf den Forschungsfeldern seiner Zeit: der Mensch in seiner Erotik, Sexualität und Triebnatur. Das Tagebuch dokumentiert all die verschlungenen Wege, die der Mann Arthur Schnitzler zu und mit Frauen geht.
Am 12. März 1880 beispielsweise konstatiert der erst 18jährige Student „eine Art Oberflächlichkeit und Leichtsinn“ in seinem Leben und träumt sich in seiner „einsamen Ecke in wunderschöne Regionen und an einen wunderschönen Busen“.
Vier Monate vor Kuwazls Bericht über erstaunliche Amouren in Baden, im Februar des Jahres 1886, gesteht sich der Bohemien Schnitzler ein:

 „Auch Medizin muss energischer getrieben werden. Das Amüsement, Theater, Bälle etc. braucht nicht zu leiden. Im Gegenteil, überaus gerne würde ich noch einen Theil meiner Zeit auf ein bisher noch nicht erwähntes Amüsement verwenden. Auf ein kleines süßes Amüsement mit rothen Lippen, großen Augen …“

In dieser Stimmung der Lust auf „ein kleines süßes Amüsement mit rothen Lippen“ verfehlt Kuwazls Baden-Lockruf seine Wirkung nicht. Am 6. August begibt sich Schnitzler an einem Freitagabend zu Verwandten mütterlicherseits nach Baden und – „hat Erfolg“. Noch am selben Tag spricht das Tagebuch von „heißen Küssen“ und bitteren Tränen im Garten der Villa Adler am Rainerring.
1891, im Badener Sommer der Marie Glümer, analysiert er sein Verhalten der geliebten Schauspielerin gegenüber erstaunlich selbstkritisch:

 „Ich quäle sie oft überflüssig und gemein, es ist wahr, und nach allem, was ich weiss, sehe, höre, ist sie so absolut brav jetzt.“

Und noch einmal taucht Kuwazl auf. Welch „anregende“ Rolle dieser Freund für Arthur spielt, ist zwischen den Zeilen des ausführlichen Tagebuchberichts vom 18. Oktober 1897 zu lesen:

 „Am 5. September verfolgte ich im Verein mit Kuwazl (…) ein junges Mädchen – Sie frappierte mich durch ihre Art und Weise zu reden und gefiel mir ausnehmend. Sie wurde zwei Tage darauf meine Geliebte und fesselte mich durch ihre überzeugende Sinnlichkeit, durch ihren Mutterwitz und manches andre. (…) ich empfinde es mit viel Annehmlichkeit, wenn ich Morgens aufwache, und es liegt mir so ein süßes Mädel in den Armen – Dann geh ich auf die Abtheilung, komme wieder herunter, und finde sie noch, schlummernd oder aufwachend, mit wollüstigen Augen in meinem Bette.“

Jeanette heißt dieses Mädchen. Mit ihr durchlebt er vieles von dem, was die Figuren im „Reigen“ in Bewegung setzt. Acht Monate vorher hat er nach knapp 100 Tagen Arbeit seinen Zyklus von 10 Dialogen abgeschlossen, sich letztlich aber eingestehend, dass dieser „vollkommen undruckbar“[2] sei. Und es dauert tatsächlich ein Vierteljahrhundert, bis die Szenenfolge „Der Reigen“ in Berlin und Wien auf der Bühne zu sehen ist. Der in der Mariengasse in Baden geborene Max Reinhardt hat ihn dazu gedrängt. Was folgt, ist zu erwarten gewesen: Eine prompt einsetzende, antisemitische Hetzkampagne der deutsch-nationalen Presse, handfeste Skandale an beiden Häusern und ein Prozess in Berlin veranlassen den Autor, weitere Aufführungen bis zu seinem Tod zu verbieten.
In dieser schwierigen Lebensphase massiver öffentlicher Anfeindungen kommt Sigmund Freuds Geburtstagsbrief gerade recht: Der Gratulant bekennt seine Hochachtung für den Dichter, bestätigt die Richtigkeit seiner Erkenntnisse, bestärkt ihn in seiner schonungslos offenen Darstellung der Triebnatur des Menschen und verbindet sich mit ihm, um den es zunehmend einsam wird, in uneingeschränkter Loyalität, wohl wissend, dass die Analyse kein Mittel ist, sich beliebt zu machen. Im Gegenteil: Mit dem „Reigen“ hat Arthur Schnitzler die engen Geister seiner Zeit vor den Kopf gestoßen, zugleich aber eine neue Richtung in der Dramenkunst eingeschlagen. Genaues Beobachten der Menschen seiner Welt und konsequente Selbstwahrnehmung liefern das Material für einen Versuch über die Beziehung von Mann und Frau. Dabei nähert er sich wissenschaftlichen Methoden: Nach dem Strukturprinzip AB-BC-CD-… erscheint jede Figur zweimal im „Labor Bühne“ und tritt zu zwei anderen in sexuellen Kontakt. Die kreisförmige Versuchsanordnung führt die soziale Stufenleiter hinauf und wieder hinunter, deutet eine biologisch gesetzmäßige Wiederholbarkeit an und zeitigt folgendes Ergebnis: Mann und Frau werden vom stets gleichen Triebbedürfnis erfasst und fallen nach einer rauschhaften Begegnung in kalte Einsamkeit, in physische wie emotionale Dunkelheit. So klagt das Stubenmädchen im zweiten Dialog in einem Zustand bodenloser Ernüchterung: „Es ist so dunkel.[3] – All das tritt – dem sozialen Status entsprechend – in verschiedenen „Verkleidungen“ auf, die im Wesentlichen im Verhalten davor und danach und in den verschiedenen Sprachcodes liegen. An den Erkenntnissen aus der Versuchsreihe „Reigen“ ändert das nichts; sie führen zurück zu Sigmund Freuds Geburtstagsbrief: „In einer kleinen Schrift vom Jahr 1920 ‚Jenseits des Lustprinzips‘ habe ich versucht, den Eros und den Todestrieb als die Urkräfte aufzuzeigen, deren Gegenspiel alle Rätsel des Lebens beherrscht.“ Ein knappes Vierteljahrhundert früher nimmt Schnitzlers „Reigen“ Freuds These vorweg: Die zehn Dialoge leben ganz aus der Dynamik, die im Gegenspiel von erotischem Rausch und dunkler, todesähnlicher Einsamkeit frei wird. Dass eine solcherart ernüchternde Diagnose kaum Akzeptanz finden würde, ist dem Wissenschaftler Sigmund Freud und dem Künstler Arthur Schnitzler bewusst. Dennoch stehen sie zu ihrem Befund.
Reigen.im.park setzt die 2012 mit „Arthur!“ eröffnete Begegnung mit Arthur Schnitzler fort und vertieft sie. Die zehn Kunstprojekte im öffentlichen Raum von Schnitzler Park und Bahnhof Baden möchten darauf verweisen, dass …

  • „Der Reigen“ die Analyse eines leidenschaftlichen Aufklärers ist, deren Ergebnisse von zeitloser Gültigkeit sind;
  • die besondere Atmosphäre der Kurstadt um die Jahrhundertwende dem jungen Dramatiker einiges an Material für seinen „Reigen“ geliefert hat;
  • Arthur Schnitzler in seinem Bemühen, dem Rätsel Mensch auf die Spur zu kommen, das Risiko sozialer Ausgrenzung auf sich genommen hat;
  • es möglich ist, die Thematik des „Reigens“ in die Gegenwart zu transformieren und so zum Dialog über das Miteinander von Frau und Mann anzuregen.

Damit trifft Reigen.im.park ins Zentrum von Kunst.

Herbert Först

 

Anmerkungen: Alle nicht gesondert ausgewiesenen Tagebuch-Zitate sind folgender Ausgabe entnommen: „Arthur Schnitzler Tagebuch“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1981

1 Sigmund Freud: Brief an Arthur Schnitzler vom 14. Mai 1922 (Zitiert nach: Die Wiener Moderne, Verlag Reclam, S. 651ff.)

2 Brief an Olga Waissnix vom 26. Februar 1897 (Zitiert nach: Interpretationen. Arthur Schnitzler, Dramen und Erzählungen, Verlag Reclam, S. 101)

3 Schnitzler, Arthur: Liebelei und andere Bühnenwerke, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, S. 173

 

[1] Sigmund Freud: Brief an Arthur Schnitzler vom 14. Mai 1922 (Zitiert nach: Die Wiener Moderne, Verlag Reclam, S. 651ff.)

 

[2] Brief an Olga Waissnix vom 26. Februar 1897 (Zitiert nach: Interpretationen. Arthur Schnitzler, Dramen und Erzählungen, Verlag Reclam, S. 101)

 

[3] Schnitzler, Arthur: Liebelei und andere Bühnenwerke, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, S. 173

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