Anna Kim: “Die Große Heimkehr”

„Fragen, auf die es keine einfache Antwort gibt“ (S. 24)
In ihrem Roman „Die große Heimkehr“ bringt Anna Kim
eine tragische Phase in der Geschichte Koreas ans Licht.

 Wer Anna Kims Weg als Schriftstellerin kennt, weiß, dass sie auch von der Absicht angetrieben wird, mit ihren Texten ferne, dunkle Territorien aufzuhellen. So auch mit ihrem jüngsten Roman „Die große Heimkehr“. Gegen den Hintergrund der dramatischen Ereignisse im Korea der Nachkriegsjahrzehnte des vorigen Jahrhunderts – für die europäische Leserschaft ein fernes Kapitel Weltgeschichte – erzählt sie eine feine Dreiecksgeschichte, deren Verlauf von einer menschenverachtenden Politik bestimmt wird.
Seoul im „Licht des späten Nachmittags“ (S. 13), die Ich-Erzählerin Hanna, fremd im „Labyrinth“ (S. 13) dieser Stadt, von gelegentlichen Jobs sich über Wasser haltend, ist auf dem Weg zu einem 78jährigen Mann, der ihre Dienste als Übersetzerin in Anspruch nehmen möchte; er heißt Yunho, lebt in einem Haus, das „ausschließlich aus Musik“ besteht (S. 14). Begleitet von Billie Holidays Song „In my solitude“ betritt Hanna die Bibliothek des alten Mannes, erfährt sein Anliegen: Er habe einen Brief aus Amerika erhalten, den sie für ihn übersetzen möge. Er enthält die Nachricht, dass eine Mrs. Eve Lewis gestorben sei und sich in ihren Unterlagen einzig seine Adresse gefunden habe. Das wird zum mächtigen Erzählimpuls, der den alten Mann an den folgenden Tagen seinen Erinnerungen nachgehen lässt. Hanna hört zu. Sie ist von Deutschland nach Korea gekommen, um Spuren ihrer koreanischen Mutter zu finden, die sich „sofort nach der Geburt“ (S. 20) von ihr getrennt hat. Hanna, das klinge „wie hana, eins auf Koreanisch“ (S. 21), meint Yunho und beginnt auf ihre Frage „Wer war Eve?“ zu erzählen …

„Von diesem Nachmittag an trafen wir uns täglich in diesem Raum, in dem alle Uhren anders gingen.“ (S. 24)

Soweit die vielschichtige Rahmenhandlung, geprägt vom Motiv der Suche nach Wurzeln und Identität. Gelegentlich wird Hanna in die Erzählung fragend eingreifen, reife Einsichten eines alten Mannes hören und erleben, dass „die Vergangenheit sich gegenwärtiger anfühlen“  kann „als die Gegenwart“ (S. 553).
Yunho, der Ich-Erzähler der Binnenhandlung, holt weit aus, geht zurück in seine Kindheit, in das Dorf Nonsan im Westen Südkoreas, erinnert sich an seine Zeit mit seinem Freund Mino Kim alias Johnny und der um einiges älteren Eve, einer Koreanerin mit amerikanischem Namen; sie ist Tänzerin, lebt selbstbestimmt in der Metropole Seoul das Ineinander zweier Kulturen:

„Zärtlichkeit machte sie schwach, und Schwäche konnte sie nicht verzeihen, vor allem nicht sich selbst.“ (S. 206)

Im Trubel politischer Ereignisse und familiärer Turbulenzen verlassen der Ich-Erzähler Yunho und Johnny das Dorf ihrer Kindheit – in der Erinnerung Yunhos „das Paradies“ (S. 30) – und verlieren einander aus den Augen. Nach Jahren trifft Yunho seinen Freund Johnny in Seoul wieder und mit ihm Eve, deren Ausstrahlung auch ihn bezaubert:

„Als ich Eve entdeckte, die sich den Weg durch die Menge bahnte, wunderte ich mich, dass mir jemals kalt gewesen war.“ (S. 204)

Dass Eves Beziehung zu den beiden auch andere Facetten kennt, verrät schon früh der Abend jenes Tages, an dem Johnny ihr zum ersten Mal begegnet:

„Er (Johnny) folgte ihr durch die Vororte, von den Rändern Seouls bis ins dicht bebaute Zentrum, und je länger die Verfolgung andauerte, desto schmäler wurden die Straßen, die breiten Boulevards der Außenbezirke verwandelten sich in Gassen, und im labyrinthischen Stadtkern verlor er sie aus den Augen.“ (S. 46)

Bald schon wird Yunho seinem Freund auf die Frage „Was wissen wir wirklich über die Menschen, die wir lieben?“ antworten: „Ich glaube, kaum etwas. Nichts.“ (S. 62)

Fünf Jahre nach dem Ende der harten, vier Jahrzehnte dauernden japanischen Kolonialherrschaft stürzt der Koreakrieg die Menschen erneut in Not und Gewalt, stellt sie infolge der Teilung des Landes vor die Frage: Wohin? Auch Yunho, Johnny und Eve müssen sich in diesem Chaos neu orientieren; und da gehen die zwei Freunde verschiedene Wege: Yunho findet seine Bestimmung im kommunistischen Widerstand gegen die Rhee-Diktatur im Süden, Johnny, „stets auf der Suche nach Möglichkeiten, die ihn aus dem Nichts ins Alles befördern würden“ (S. 29),  hat sich der antikommunistischen Nord-West-Jugend angeschlossen. Eve bleibt für beide ein wichtiger, unpolitischer Bezugspunkt. Als Johnny im Verlauf eines Streits einen Rhee-Anhänger erschlägt, müssen alle drei sich nach Japan absetzen. In der koreanischen Community von Osaka, die von Zukunftsfragen zerrissen ist, verbringen die drei etwa ein Jahr, bevor sie sich entscheiden müssen: im Zuge der „Großen Heimkehr“ den Lockrufen Kim Il Sungs folgen und nach Nordkorea gehen, in Japan als Menschen zweiter Klasse bleiben oder nach Südkorea zurückkehren, wo eine ungewisse Zukunft wartet?
Ein Jahr nach ihrer Flucht nach Japan sind sie in alle Welt zerstreut: Johnny ist mit einem Mädchen, das er liebt, nach Nordkorea gegangen, Yunho ist wieder in Südkorea, und Eve hat sich für die USA entschieden. Welche Rolle sie im Leben der zwei gespielt hat, wird im atemberaubenden Finale des Romans enthüllt, soll aber hier nicht verraten werden.
Angereichert wird die Dreiecksgeschichte durch die Verflechtung der Hauptfiguren mit Menschen, die in irgendeiner Form Einfluss auf ihr Leben nehmen. Sie repräsentieren Formen der Reaktion auf extreme Situationen, auf Gewalt und Unterdrückung, demonstrieren die Notwendigkeit, Identitäten oder politische Positionen zu wechseln, sich als Werkzeug missbrauchen zu lassen. Dieses Verhalten zeigt ausgeprägt auch Eve, die je nach Situation einen anderen Namen annimmt – „Was sei schon ein Name, doch nichts anderes als eine Verkleidung.“ (S. 549) – und mit diesem in eine schützende Identität schlüpft. Sie folgt – so Yunho – ihrem

„… Instinkt, zu überleben. (…) Natürlich machte sie sich etwas vor, sich und allen anderen. Eve war so wenig Patriotin wie ich Buddhist bin. Sie hatte lediglich eine Nische gefunden, in der sie leben konnte, wie es ihren Vorstellungen am nächsten kam.“ (S. 529f.)  

Eine weitere Stärke des Romans liegt darin, die offizielle Geschichtsschreibung durch persönliche Schicksale mit Leben zu erfüllen. Diese machen sichtbar, wie grausam die großen Player der Geschichte über Menschen hinweggehen, um eine Ideologie durchzusetzen oder Machtgelüste auszuleben, führen vor Augen, was Menschen einander antun können. Das wird auch in den bisweilen ausufernden Exkursen zur koreanischen Geschichte ausgeführt, zu denen sich Yunho hinreißen lässt. Sie verlangen den Lesenden einiges an Durchhaltevermögen ab, nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht immer über die sprachliche Kraft der Dreiecksgeschichte verfügt. Etwas weniger an recherchiertem Material in den Roman zu packen hätte ihm wahrscheinlich gutgetan.
Dennoch: Jene poetische Dichte, die Anna Kims frühere Romane auszeichnet, leuchtet auch in der „Großen Heimkehr“ immer wieder auf, im Besonderen dann, wenn sie in der Beschreibung von Wetter, Licht, Gerüchen oder Stadtvierteln eine alle Sinne ansprechende  Atmosphäre entstehen lässt.

„An dem Tag zerbröselte der Himmel, doch die Schneeflocken waren weder kalt noch schwer, sondern trocken und leicht, körperlos fast.“ (S. 45)

„Ich war in einer Geisterstadt, verlassen von Licht, dafür bevölkert von Winden, die keine Hände haben, aber an Bäumen rütteln, und vom Mond, der keine Füße hat, aber den Himmel durchwandert.“ (S. 213)

Am „Fall Korea“ diskutiert Anna Kim die historische Einsicht, dass „die Herrschaft der Masse mit der Vernichtung des Einzelnen beginnt“ (S. 187). Dass ein Roman über Korea auch den Kampf für Ideologien und deren verblendende Wirkung thematisiert, ist unausweichlich. Ayumi etwa, eine kommunistische Koreanischlehrerin in Osaka, gibt sich ganz den Träumen hin, die Kim Il Sung in ihr ausgelöst hat:

„Ayumi kletterte ein paar Äste höher, um den Horizont besser zu sehen. (…) Er erschien ihr wie ein Ziel, ein Ort, an dem sie sein wollte. (…) Sie wollte dort sein, am Horizont, bei der Linie, die keine ist, sondern ein Übergang – die Grenze, an der der Himmel auf die Erde fällt.“ (S. 299)

Thematisch zentral auch das vorangestellte Motto „le secret de ce que je suis“ von Jean-Paul Sartre, also die existentielle Frage: Wer bin ich? Anna Kim geht ihr mit dem Plot der erzählten Geschichte nach und unterlegt diese mit Zitaten aus Albert Camus‘ Texten „Der Fremde“ und „Der Mensch in der Revolte“ sowie leitmotivisch eingewobenen Liedern von Billie Holiday, beispielsweise jenem Einstiegssong „In my solitude“. Mit dem Lied „East of the sun and west oft he moon“ überlässt Anna Kim der amerikanischen Sängerin sogar den Schlussakkord des Romans:

„Als ich ins Freie trat, war das Licht am Versiegen … (…) Über den Dächern im Osten ging der Mond auf, hinter dem Kirchturm im Westen die Sonne unter.

            Up among the stars we’ll find
A harmony of life to a lovely tune
East of the sun and west of the moon.
(S. 553f.)

Diese Verse und das “Licht des späten Nachmittags”, das dem brillant gebauten Roman einen zarten Rahmen gibt, verwandeln die mitunter schwer erträgliche Grausamkeit geschichtlicher Prozesse in eine lebensbejahende Melancholie, und das ist gut so.
Herbert Först

Textprobe:

„Wenn ich heute an diese Nacht denke, ist die Szene unterlegt mit Musik, den ersten Takten aus Solitude; den gezupften Gitarre-Tönen, die Billies Gesang ankündigen, leise, zögernd, doch unbeirrbar. Der Raum ist in ein blaues Grau getaucht und hat seine Grenzen, die Wände, verloren, das silberne Licht des Mondes tastet sich durch das Fenster, und ich habe Johnnys Profil vor mir, die Spitze seiner Nase und seine Lippen, die Augen liegen im Schatten. Ich sage: ‚Alles wird gut. Alles wird wieder wie früher. Erinnerst du dich?‘
Er lächelt und alles ist gut, alles ist wie früher, für eine Sekunde – in der nächsten sitzen wir im gleißend hellen Licht, Tetsuya bedroht Johnny mit einer Waffe, zwei seiner Männer zwingen mich, das Zimmer zu verlassen. Ich gehe, benommen, konfus, ich weiß nicht, wie mir geschieht, dann entdecke ich Eve im Flur; sie hat Tetsuya geholt, und ich glaubte sie neben mir, im tiefen Schlummer.
Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Niemand weiß, aus welcher Wolke es als Nächstes regnen wird. Diese Wolke war mir bekannt; ich hätte sie besser beobachten sollen.“
(S. 518)

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