Xaver Bayer: “Wildpark”

„Es ist ein regelrechtes Spiel, das du mit dem Universum spielst.“ (S. 77)

 In „Wildpark“, seinem neuen Band von Kurztexten, geht Xaver Bayer der Einmaligkeit des Augenblicks, den „Schlangenlinien“ des Bewusstseins
und dem Verwirrspiel von Träumen nach.

 

„Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind.“ – Dieser Satz aus Fernando Pessoas „Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“ (Abschnitt 451) könnte für Xaver Bayers Kurztexte Pate gestanden haben. Sie stellen uns nämlich von der ersten bis zur letzten Seite vor eine außergewöhnlich subjektive Weltbetrachtung, in der alles Wahrgenommene zur Spiegelung eines Innenlebens wird, bei der auch immer wieder Türen zu Träumen geöffnet werden.

„Wenig kann das Glück uns geben, denn ein Traum ist alles Leben und die Träume selbst ein Traum.“ – Calderon, Das Leben ein Traum, 2. Akt  (S.44)

Wir sind vom gleichen Stoff, aus dem die Träume sind und unser kurzes Leben ist eingebettet in einen langen Schlaf.“ – Shakespeare, Der Sturm, 4. Akt (S.67)

Ausgespannt zwischen diesen beiden eingearbeiteten Zitaten von Calderon und Shakespeare, die das Leitmotiv des Buches beitragen, führen die insgesamt 69 Texte in eine Weltbetrachtung, die keine Grenzen kennt, in der alles Wahrgenommene – „es geht meist vom Anblick aus“ (S.62) – zum Auslöser für einen Eintritt ins Bewusstsein wird:

„Das Bewusstsein: Schlangenlinien, über die Ufer tretende Bereitschaft, sekundenlange Verschärfung, jeder Schritt ein neues Leben, ein Binnenland mit fremder Währung und unbekannten Maßeinheiten.“ (S.72)

Und diesen Einstieg ins Bewusstsein geht man als Leser/Leserin mit. Dafür sorgt vom ersten Absatz an die Erzählperspektive: Jenes „du“, mit dem Xaver Bayer dich in seine Welt holt:

„Jeden Morgen liegst du aufs Neue dahingewürfelt oder wie fallen gelassene Mikadostäbchen oder besser: wie die aus der Hand des Druiden gestreuten Buchenstäbchen, aus denen er sich Antworten zusammenreimt. Abertausendmal in irgendeiner Konfiguration erwacht, dich hochgerappelt und begonnen, die Deutung möglichst gewissenhaft zu erfüllen.“ (S.68)

An Kafka-Texte erinnernd verdichtet Xaver Bayer im Motiv der Fallen-gelassenen-Mikadostäbchen jene Situation, in der sich jeder Mensch – sein Interesse an Sinnfragen vorausgesetzt – an jedem Morgen wiederfindet. Ähnlich fruchtbar und verwirrend auch der Abend:

„Abends, mit der Dunkelheit, schleicht sich erneut der Nebel in die Stadt. Man sieht bald nur noch ein paar Meter weit. (…) Jetzt (…) im Nebel, der auch fast alle Geräusche verschlingt, öffnet sich die Welt dir wieder, wie ein scheues Tier, das sich nur aus seinem Unterschlupf traut, wenn es dunkel und niemand unterwegs ist.“ (S.66)

Soweit die Eckkoordinaten für die Begegnung mit dem Buch, dessen Titel „Wildpark“ in seiner Verbindung von Wildtieren und Einzäunung genau das evoziert, was in den einzelnen Texten lebendig wird. Eine Art Triptychon, bestehend aus den bezeichnenden Überschriften „Sinnestäuschungen“, „Tor“ und „Fenster“, führt in die Welt dieses „Wildparks“. In jedem dieser drei Texte warten programmatische Sätze, gleichsam Verweise darauf, was zu beachten sein wird:

„Das alles flackert instringent und schnippisch durch deinen Kopf, während du aus dem großen Fenster des Kaffeehauses am Platz hinausblickst.“ (S.5)

„Du hast das Basislager verlassen, bist aufgebrochen, ohne deine Freunde zu wecken. (…) Du schließt, für länger, als ein Zwinkern dauert, deine Augen, und als du sie aufschlägst, befindest du dich unvermittelt ganz woanders.“ (S.7f.)

„Die Fenster, durch das du von innen nach außen blickst: Täglich rückst du ein wenig von ihnen ab, so wie auch die Sonnenstrahlen am Morgen ein paar Fingerbreit weiter gewandert sind als am Vortag.“ (S.9)

Sätze dieser Art lassen schon erahnen, welches „Rüstzeug“ für die Reise in die Welt des „Wildparks“, für das „Wegdriften in abgelegene Gegenden“ (S.118) hilfreich sein kann: radikale gedankliche Offenheit, ein Sich-Einlassen-Können auf das „Vogelvolk der Gedanken“ (S.64), auf den „Morast der Träume“ (S.65), in denen „alles möglich ist“ (S.49). Aber Vorsicht: Auch das beste Rüstzeug bleibt ein beschränktes Instrument für das Öffnen der mitunter wahrlich hermetischen Texte.

„Hier ist das Ende für Fußgänger: Du hast nur die Wahl umzukehren. Und langsam, aber beharrlich, als du den Rückweg antrittst, pulsiert in deinem Gehirn immer wieder der Gedanke auf: Bin ich jetzt verrückt, oder sind es alle anderen?“ (S. 88)

Bemerkenswert an der Sammlung „Wildpark“ ist, dass auf dieser Reise entlang der „Schlangenlinien des Bewusstseins“ Xaver Bayer sich Text für Text brennenden Fragen unserer Zeit stellt: Er schreibt an gegen den Wahrnehmungsverlust als Folge der Inbesitznahme durch digitale Medien; er betont den Reichtum der „Erinnerungsgebiete“ (S.73), die wir mit uns tragen; er verweist auf die Einmaligkeit eines jeden Augenblicks; er stellt fest, dass das „Leben von uns Menschen“ nach wie vor einem „ewigen Sklavenaufstand“ (S.75) gleicht; er ortet ein fatales Aneinander-Vorbeisehen in der U-Bahn, wenn beispielsweise „der Greis sich abwendet von den beiden und auf einmal seinem eigenen Spiegelbild in der Waggonscheibe gegenüber in die Augen sieht“ (S.130); er legt den Finger auf Wunden, denen sich die Politik nicht oder nur zögerlich zuwendet; und er erinnert an die häufig und gern verdrängte Gegebenheit des Todes:

„Gäbe es keinen Plafond, könntest du direkt den Saum der Zeit sehen, hinter dem sich alles verliert, aber vor diesem Anblick bist du vorläufig noch sicher.“ (S.74)

Soweit nur einige der Themen, denen Xaver Bayer auf seiner Reise nachgeht. Diese endet nach der „Vorletzten Station“ (S.130) mit dem Text „Göttliche Komödie“, der in seiner Funktion als Schlussakkord noch einmal bewusst macht, dass Literatur auch eine Schule des Schauens, ein geduldiges Warten auf Einsichten sein kann.

Mit Shakespeares „Der Sturm“, Calderons „Das Leben ein Traum“ und Dantes „Göttlicher Komödie“ stellt Xaver Bayer seinen „Wildpark“ in den Kontext großer europäischer Texte; mehr noch: Im Text „Who do you love“ greift er auch das abendländische Motiv des Welttheaters auf:

„Wie auch immer, Spiel bleibt Spiel, und ausschlaggebend dafür, dass du dich Tag für Tag im Proberaum aufhältst oder am Spieltisch Platz nimmst und den ersten Zug machst, ist – je nach Verfassung – Übermut, Pflichtbewusstsein oder Langeweile.“ (S.77)

Xaver Bayers Texte exzentrischer Weltbetrachtung bestechen mit einer präzisen, klaren Sprache, die an die Schnitte eines Skalpells erinnert und Emotionen wenig Raum lässt. Diese stilistische Qualität und die durchgehende Du-Perspektive heben die auf den ersten Blick radikal subjektiven Erfahrungen auf eine Ebene, die jeder Leserin/jedem Leser eine Identifikation ermöglicht, ja sogar nahelegt. Damit wird „Wildpark“ zu einem Buch, das zu sorgfältiger Selbstbeobachtung einlädt, die letztlich erhellende Selbsterfahrung in Aussicht stellt – somit einen Gewinn, der von Kunst, von Literatur im Besonderen erwartet werden darf. Dennoch: Unseren Träumen ähnlich verschließt sich „Wildpark“ einem Klar-Werden auf den ersten Blick; so mancher Text gleicht einem Marmorblock, der zunächst nur erahnen lässt, welche Skulptur in seinem Innern schlummert. Nicht selten stellt sich bei Xaver Bayer die dann doch entdeckte Skulptur als existentielle Einsicht heraus, für die es zu danken gilt. So wird beispielsweise der Text „Ach“ (siehe Leseprobe) nach längerem Betrachten zu einer umfassenden Deutung des Lebens.

Das Bild vom geheimnisvollen Marmorblock führt zurück zum ersten Satz, zum portugiesischen Autor Fernando Pessoa, der uns in seinem „Buch der Unruhe“ für Begegnungen mit sperrigen Texten einen trostreichen Gedanken nahelegt:

„Nicht verstehen wollen, nicht analysieren … sich sehen wie die Natur; seine Empfindungen betrachten wie eine Landschaft – das ist weise.“ (Abschnitt 252)

Dies ein Satz für Texte, bei denen wir uns womöglich ein wenig hilflos erleben. Auf „Wildpark“ trifft das mitunter zu. Aber was soll’s? Pessoa lockt mit der Aussicht auf Weisheit.

Textprobe:

Ach
Das liest du, als du morgens dein Telefon in Betrieb nimmst und ein Piepston dir eine in der Nacht geschriebene und empfangene Nachricht anzeigt. Ach was, denkst du dir zunächst und überlegst, wessen Nummer das sein könnte, aber sie ist dir unbekannt. Ach, denkst du dann auch, ach, das Wort, das in der Nacht steckt, wenn sich das Ich scheinbar im Nichts suhlt.

Da fällt dir aus heiterem Himmel ein, wann du zuletzt in einer Schiffsschaukel gesessen bist. Du ein Kind, und Kirtag im Dorf. Die Ausstellerwagen mit den Lebkuchenherzen und der Zuckerwatte, die Scherzartikelverkäufer und die Schießbuden und laute Musik aus großen, scheppernden Lautsprechern. Und ein Karussell und ein kleines Riesenrad und eben eine Schiffsschaukel, in der du mit anderen Kindern sitzt. Wie ein echtes Schiff ist sie mit dicken Lackschichten überpinselt, in einem Hellblau, dem man sonst nur am Mittelmeer begegnet. Ein paar Roststellen und das gefährlich klingende Quietschen bei jeder Schaukelbewegung machen den Kitzel der Sache aus, und die Insassen sind vom ersten Aufschwung an Verbündete, obwohl sie einander doch vorher womöglich gar nicht gekannt hatten. Die Musik dröhnt, und wir fliegen auf und nieder, von Wellental zu Wellental, bis das enttäuschende Ausschwingen einsetzt. Aber wenn der Betreiber der Schaukel ein Guter ist, dann zögert er das sich abzeichnende Ende hinaus und lässt uns einmal noch ganz hinaufsteigen, wo man sich fast wegkatapultiert glaubt, hinaus über den Dorfplatz mit der Kirche, dem Kriegerdenkmal, dem Greißler und dem Gasthaus, immer höher, immer weiter.

Mit leicht wackligen Knien steigst du dann aus dem Schiff, setzt den Fuß wieder an Land, wir alle mit roten Backen, nur einer oder eine vielleicht etwas blasser als zuvor. Ach. Heute siehst du, wenn du später dann mit dem Autobus durch die Industriezonen der Vorstädte Richtung Flughafen fährst, die Schiffsschaukeln auf der Lagerhalde eines Schrotthändlers, verbogen, verrostet, und daneben, nicht weniger desolat und abgeschrieben, die Karusselle, auf denen Pferde und Löwen und Lokomotiven, kleine Helikopter und Feuerwehrautos immer noch einmütig und gehorsam im Kreis stehen. Neben dem Schrotthändler ein ödes Kasernengelände und danach der ehemalige, seit Jahren aufgelassene Flughafen, in dem heute Obdachlose untergebracht sind. Überall verstreut liegt Müll, auf den Handläufen der Treppen, die früher zur Aussichtsplattform führten, hängen zerschlissene Teppiche und Decken zum Auslüften, und aus den scheibenlosen Fenstervierecken lehnen Kinder und schauen gelangweilt dem Bus nach, in dem du sitzt. Und fort führt die Reise, durch die Sicherheitskontrolle und das Abfluggate irgendwohin, Hauptsache unterwegs.
Ach.
Ach was. (S.11f.)

 

 

 

 

 

 

 

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