Lade Veranstaltungen

« Alle Veranstaltungen

  • Diese Veranstaltung hat bereits stattgefunden.

“Mit Lyrik leben” – Überlegungen zu einer erhellenden Begegnung mit Gedichten

29. Juni 2016 @ 19:00 - 21:00

„Mit Lyrik leben“

Überlegungen zu einer erhellenden Begegnung mit Gedichten

 

Von Elfriede Gerstl gibt es das Gedicht „vom gebrauch der gedichtzeilen“  –  beginnt so:

sich in eine zeile legen

                                               wie in eine sofaecke“

Damit ist Wesentliches gesagt:

Wer sich auf Gedichte einlassen möchte, muss …

sich Zeit nehmen, innehalten, offen werden

 

Von 1968 – 1973 / Uni Wien / Germanistik  –  einer meiner Professoren …

  • Herbert Seidler – gediegenes Buch über Literaturtheorie „Die Dichtung“
  • Ausgangspunkt für jegliche Kunst/Sprachkunst: Betroffenheit Welt/Leben
  • Urformen sprachkünstlerischen Gestaltens:
  • aus Betroffenheit erzählen (über das Leben)
  • aus Betroffenheit sich verwandeln, spielen und etwas darstellen
  • aus Betroffenheit singen
  • Lyrik – Sprachkunst in ihrer dichtesten Form – „Gedicht“ – „verdichten“
  • Sprache wird zum unmittelbaren Medium/Material für künstlerisches Gestalten.

 

Meine „Überlegungen zu einer erhellenden Begegnung mit Gedichten“ sind ausgesprochen persönlicher Natur. In meiner Geschichte mit Lyrik gab es immer wieder Gedichte, an denen ich atemlos innehielt und staunte. Und da gab es auch einen theoretischen Text, einen regelrechten Türöffner für den Eintritt in die Welt der Lyrik: „Elemente der Lyrik“ von Walther Killy.

Keine literaturwissenschaftliche Abhandlung über Lyrik!

Was ich bieten kann: eine Art Essenz meiner Erfahrungen mit Gedichten …

Auswahl der Textbeispiele daher subjektiv.

Viele Gedichte  –  Lebensgedichte geworden.

Viele Gedichte  –  schulerprobt, sind von jungen Menschen mit Offenheit und Neugier aufgenommen und ins Leben mitgenommen worden.

 

Fasse meine Erfahrungen mit Gedichten in insgesamt 9 Aussagen zusammen.

 

AUSSAGE 1: Lyrik ist Ökonomie,  Reduktion. In Gedichten treffen wir auf sprachliche Zeichen in  ihrer dichtesten, komprimiertesten Form – Sprachkristalle.

Hilde Domin: „Gedichte sind ihrer Natur nach Konzentrate, Essenzen.“

 

ein baum sein

vögel zu gast haben

das wär was

            worauf man sich freuen könnte            

Elfriede Gerstl

 


Der, den ich liebe,

hat mir gesagt,

daß er mich braucht.

 

Darum

gebe ich auf mich acht,

sehe auf meinen Weg und

fürchte von jedem Regentropfen,

daß er mich erschlagen könnte.

                                   Bert Brecht

 

Sommerregen warm:

Wenn ein schwerer Tropfen fällt

bebt das ganze Blatt.

So bebt jedes Mal mein Herz

wenn dein Name auf es fällt

                                   Erich Fried

 

 AUSSAGE 2: Lyrik ist sehr oft Einsicht durch Anschauung der Natur.

Vor einigen Wochen auf folgenden Satz des Komponisten Wolfgang Rihm gestoßen:

 

„Was nicht jeder sofort versteht, muss, so die Meinung vieler, verdächtige Hochkultur sein. Ein sehr lebensfeindlicher Standpunkt. Schließlich versteht keiner das Leben und lebt doch gern.“ –  Wolfgang Rihm

Unter allen Geschöpfen dieser Erde  –  Mensch das einzige, mit Bewusstsein (Wortwurzel „wissen“) ausgestattet  –  das ist eine Auszeichnung, die aber auch eine dunkle Seite mit sich bringt. – Warum?

 

Wir wollen wissen, wissen aber auf die existentiellen Fragen

WOHER?  –  WARUM?  –  WOHIN?       … keine Antwort.

Was wir können, um etwas Klarheit in unsere Existenz bringen: unser Leben deuten

Lyrik ist dabei ein besonderes Angebot!

  • Lyrik deutet das Leben.
  • Wie? Über die Anschauung der Natur, in der Betrachtung der Natur, der Welt …
  • Häufiges Verfahren dabei: die Personifikation

 

Es war, als hätt‘ der Himmel

Die Erde still geküßt,

Daß sie im Blütenschimmer

Von ihm nur träumen müßt‘ …

                        Joseph von Eichendorff

 

Gelassen stieg die Nacht ans Land,

Lehnt träumend an der Berge Wand …

                        Eduard Mörike

 

 

 

Frühling läßt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte …

                        Eduard Mörike

 

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein.

Kein Baum sieht den andern,

Jeder ist allein …

                        Hermann Hesse

 

Auf der Schwelle des Hauses

In den Dünen sitzen. Nichts sehen

als Sonne. Nichts fühlen als

Wärme. Nichts hören

als Brandung. Zwischen zwei

Herzschlägen glauben: Nun

ist Frieden.

                        Günther Kunert

 

Ich möchte diese Birke sein

Ich möchte diese Birke sein

Die du so liebst:

Hundert Arme hätt ich um dich zu schützen

Hundert grüne und sanfte Hände

Um dich zu streicheln!

Ich hätte die besten Vögel der Welt

Um dich bei Tagesanbruch zu wecken

Und am Abend zu trösten

In den Stunden des Sommers könnt ich dich

Unter Blumenblättern aus Sonne verschütten

In meinem Schatten hüllte ich zur Nacht

Deine ängstlichen Träume …

                        Ivan Goll

 

Die poetische Anschauung ist irrational, vertraut nicht dem logischen Denken/dem Kopf, ist aber nicht unvernünftig. –  LYRIK bewegt sich auf dem Boden der Intuition.

Was an diesen Beispielen erkennbar ist: Lyrik reduziert die Vielfalt der Erscheinungen auf wenige, auf eben solche, mit denen ein poetisches Begreifen möglich wird. Daraus ergibt sich eine Spannung von Knappheit der Zeichen und Fülle an poetischem Begreifen.

Ich halte fest: Lyrik ist Anschauung der Natur. Der griechische Lyriker Jannis Ritsos geht noch einen Schritt weiter: Er sieht in der Natur die Koordinaten für das Entstehen jeglicher Kunst:

 

„Auf dem durchsichtigen Flügel eines Insekts studiere ich die Geographie der Kunst.“

 

 

 

AUSSAGE 3: Lyrik ist ein Gewebe von sprachlichen Zeichen.

Wer sich auf ein Gedicht einlässt / sich Zeit nimmt / innehält, wird ein Gewebe von Beziehungen, ein dichtes Beziehungsgeflecht entdecken. Für Hugo von Hofmannsthal ist ein Gedicht „ein gewichtloses Gewebe aus Worten“.

Grundverfahren der Lyrik: die Reihung, die so etwas wie Musikalität entstehen lässt.

Zur Demonstration – ein alter Volksspruch …

 

Alter Volksspruch

Ich kam, weiß nit woher,

Ich bin und weiß nit wer,

Ich leb, weiß nit wie lang,

Ich stirb und weiß nit wann,

Ich fahr, weiß nit wohin.

‑   Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.

 

Fünf Aussagen aneinander gereiht, schlicht, aber klar gegliedert;

der 6. Vers formuliert ein Staunen, jene Aussage, auf die der Spruch hinausläuft.

 

Parodie eines Kindergebets

Lieber Gott mach mich stumm

Daß ich nicht nach Dachau kumm

 

Lieber Gott mach mich taub

Daß ich nicht am Radio schraub

 

Lieber Gott mach mich blind

Daß ich alles herrlich find

 

Bin ich taub und stumm und blind

Bin ich Adolfs liebstes Kind.

                        Anonym

 

Brechts „Radwechsel“ – vom „Alten Volksspruch“ inspiriert?

 

Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

Mit Ungeduld?

                        Bert Brecht

 

Befund eines Menschen in einer Situation existentieller Ungewissheit, des Umbruchs, der Neuorientierung und es zeichnet den Menschen als Wanderer.

 

Das Verfahren der Reihung erfolgte in den bisherigen Beispielen nach dem Prinzip der Addition: a + b + c + d …

So auch das folgende Gedicht „Im Sommer“ von Ingeborg Bachmann (damals 18 Jahre jung) –  viel komplexer als die vorigen zwei Beispiele:

Ein Element wird an das andere gereiht  –  ergeben sich Elementgruppen  – in weiterer Folge Fäden von Elementgruppen, die zu einem lyrischen Teppich gewoben werden:

  • die Höhe des Himmels, der Sonne
  • die Tiefe des moorigen Teiches
  • die Hitze
  • der Vorgang des Vergehens

… das alles ausgehend von einer klar umrissenen Situation!

 

 

 

Im Sommer

Zwischen Schlaf und Träumen

In üppigen Wiesen

Wandert mein Blick auf

In die unendlichen Höhen.

Welch ein schäumendes Leben!

Wolke auf Wolke entschwebt

Wie die glühenden Stunden,

Die werden versinken

Mitten ins dunkle Weh

Des moorigen Teiches.

Nichts regt sich in mir,

Durch die sengende Hitze

Bin ich in Ruhe geworfen.

Tag folgt auf Tag.

Meine Augen sehen sie immer,

Die goldene Sonne.

Einmal wird sie bleiben,

Dort wo ein Schatten aufwölkt.

Bitterlich ist das Versäumen.

                        Ingeborg Bachmann

 

 

Ähnlich ein Gedicht von Maja Haderlap aus dem Band „Gedichte – Pesmi – Poems“ aus dem Jahre 1989:

Auch hier die Natur als Rückzugsort, als Ort des Nachdenkens, des Zur-Ruhe-Kommens, des Zu-Sich-Findens;

auch hier die Hitze;

auch hier das Reihen von Elementen zu einem Bild, an dessen Ende allerdings ein konträres Resümee gesetzt wird: „bitterlich“ bei Bachmann – „glücklich“ bei Haderlap.

 

 

 

 

 

ich ging

nach unruhigen tagen

voll verrufener wörter

zu den lärchen.

 

die erde war

geschwollen vor schwüle

an diesem tag.

 

schweratmend

und verschwitzt

erkenne ich,

dass ich immer noch gehe.

 

auf der lichtung

hülle ich mich in

harzgeruch,

sammle eine handvoll

wilder erdbeeren.

mit vollem mund

sitze ich da bis zum abend,

glücklich, wie käfer

im frühling.

                        Maja Haderlap

 

Eines meiner „Lebensgedichte“ – Hugo von Hofmannsthals „Ballade des äußeren Lebens“

Warum Lebensgedicht? Es richtet auf, gibt Mut, wenn die Monotonie des Alltags / die Abfolge des stets Gleichen einen bedrohlich niederdrückt.

 

Ballade des äußeren Lebens

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,

Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,

Und alle Menschen gehen ihre Wege.

 

Und süße Früchte werden aus den herben

Und fallen nachts wie tote Vögel nieder

Und liegen wenig Tage und verderben.

 

Und immer weht der Wind, und immer wieder

Vernehmen wir und reden viele Worte

Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

 

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte

Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,

Und drohende, und totenhaft verdorrte …

 

Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen

Einander nie? und sind unzählig viele?

Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

 

Was frommt das alles uns und diese Spiele,

Die wir doch groß und ewig einsam sind

Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

 

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?

Und dennoch sagt der viel, der „Abend“ sagt,

Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt

 

Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

                        Hugo von Hofmannsthal

 

Hier wieder eine auffällige Reihung, aber nach einem anderen Prinzip: VARIATION

  • 12 Verse „Thema und Variation“
  • 7 Verse anschließende Fragen
  • ein „DENNOCH“, das eine trostreiche SUMMATION einleitet

 

AUSSAGE 4: Gedichte kommen in einer Summation, einer „Coda“ zur Ruhe.  Sie fasst zusammen, was das lyrische Ich sagen möchte. Ein Gedicht hört nicht auf, sondern wird in seiner Coda still.

Dylan Thomas bezeichnet dieses Verklingen eines Gedichts als „momentary peace“.

Stichwort „Coda“  –  Es trifft sich gut, dass in Ingeborg Bachmanns frühem Gedicht „Abends frag ich meine Mutter“ (1948) einige Begriffe aus der Musik aufklingen.

 

Abends frag ich meine Mutter

heimlich nach dem Glockenläuten,

wie ich mir die Tage deuten

und die Nacht bereiten soll.

 

Tief im Grund verlang ich immer

alles restlos zu erzählen,

in Akkorden auszuwählen,

was an Klängen mich umspielt.

 

Leise lauschen wir zusammen:

meine Mutter träumt mich wieder,

und sie trifft, wie alte Lieder,

meines Wesens Dur und Moll.

                        Ingeborg Bachmann

 

Für uns wichtig festzuhalten: In der Summation geht das Gedicht sehr oft den Weg vom Fühlen zum intuitiven Erkennen.

 

 

 

 

 

AUSSAGE 5: Lyrik ist Verdichtung auch in der STRUKTUR.

Beispiel Bert Brecht: „Der Rauch“

 

Der Rauch

Das kleine Haus unter Bäumen am See.

Vom Dach steigt Rauch.

Fehlte er

Wie trostlos dann wären

Haus, Bäume und See.

                                   Bert Brecht

 

Fünf Verse – angeordnet zu einer einfachen, aber strengen und klaren Struktur, die aus zwei konzentrischen Kreisen um eine Achse besteht:

Der Rahmen baut mit „Haus, Bäumen und See“ eine Komposition aus drei Elementen, allesamt Voraussetzungen für menschliches Leben in Würde: Sicherheit/Natur/Wasser

Der zweite Vers evoziert mit den Wörtern „Dach“ und „Rauch“ – Schutz und Wärme, impliziert, dass hier Menschen wohnen, und rundet das Bild zu einer Idylle ab.

Mit der Achse „Fehlte er“ eröffnet der Konjunktiv 2 eine Hypothese: Ohne Menschen wäre die Komposition „Haus, Bäume und See“ trostlos.

In fünf Versen und einer bestechenden Struktur formuliert Brecht in radikaler Ökonomie eine Aussage, die einen tiefen Kulturoptimismus verkündet.

 

Wos kundadns duan?

I frog mi:

Wauni in da frua

afoch lignbleibad?

Wos kundadns duan?

Da weka radschad und radschad,

und i ria mi ned.

Si kuman und beiln mi,

und i ria mi ned.

Si schrein und keben,

und i ria mi ned.

Si frogn:

Bis depad oda graung?

Und i ria mi ned.

Di augn hedi ofn,

oba schaun dedi ned,

den mund hedi ofn,

oba redn dedi ned.

Und wauns ma an oam ind he hebadn,

nocha folada owe

ois wira nosa fezn in kiwe.

Wos dedadns daun?

Wos kundadns duan?

Wauni in da frua afoch lignbleibad?

                        Christine Nöstlinger  

 

Auch das Gedicht „Wos kundadns duan?“ dreht sich um eine Achse – bei Gedichten mit einer ungeraden Versanzahl lohnt sich oft ein Blick auf die Achse. In diesem Fall ist es der 12. Vers; 11 Verse sind es davor, 11 Verse danach.

Auch hier eine Hypothese im Konjunktiv 2, sie eröffnet das Gedicht mit der Frage:

Was wäre, wenn ich einmal nicht funktionierte?

Dann führt ein Dreischritt zur Achse, die eine erschütternde Diagnose bereithält: Wer nicht funktioniert, ist entweder „depad“ oder „graung“.

Es folgt ein weiterer Dreischritt, in dem dieses „i ria mi ned“ genauer ausgeführt wird.

Und mit drei Fragen wird die Hypothese des Einstiegs in der Summation noch einmal hingesetzt  –  ganz im Sinne von: Wäre doch interessant, das einmal zu versuchen!

 

Relativ oft spiegelt sich in der Struktur die Polarität des Lebens. In seinem Gedicht „Hälfte des Lebens“ stellt Friedrich Hölderlin in überwältigenden Bildern  dem Leben die Erstarrung gegenüber.

 

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

 

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

                        Friedrich Hölderlin

 

Wer mit Hölderlins Biografie vertraut ist, kommt nicht umhin, in diesem Gedicht eine bange Vorahnung von dem zu sehen, was an tragischem Schicksal auf den Dichter zukommen sollte.

 

AUSSAGE 6: Lyrik spricht von Erfahrungen / Erkenntnissen / Einsichten.

Ein Gedicht möchte mir etwas sagen! 35 Jahre Lehrer für Deutsch: Dabei war es mir immer wichtig, den jungen Menschen mitzugeben: LYRIK spricht von Erfahrungen, Erkenntnissen, Einsichten  –  Lyrik darf nicht abgetan werden mit dem Wort „Gefühle“ – Gefühle schwingen mit, zentral aber – die Aussagen über das Leben.

 

Rilke: „Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle, – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen.“

 

In den folgenden Beispielen werden Erfahrungen/Erkenntnisse/Einsichten anschaulich formuliert, ganz in Übereinstimmung mit dem Satz „Lyrik ist Anschauung der Natur.“

Die Gedichte bedürfen keiner Erläuterung.

 

Tour de France

Als die Spitzengruppe

von einem Zitronenfalter

überholt wurde,

gaben viele Radfahrer das Rennen auf.

                                   Günter Grass

 

eingegrenzt

steine

meterdick angehäuft

aufgetürmt zur mauer

zum bollwerk

gegen die angst

gegen das fremde

der schießschartenblick eingeengt

ausgegrenzt himmel und meer

trügerische sicherheit

gegen den langen atem der zeit

 

ölbäume stehen heute

diesseits und jenseits

ihre schatten

wechseln täglich die seiten

                        Roswitha Schmit

 

Marie Luise Kaschnitz zeichnet in den Gedichten „Juni“ und „Genazzano“ die Einsicht, dass unser Leben einem Bogen gleicht. In diesem Bogen des Lebens steht der Juni für den Zenit, der Winter für den Tod.

 

 

 

Juni

 

Schön wie niemals sah ich jüngst die Erde.
Einer Insel gleich trieb sie im Winde.
Prangend trug sie durch den reinen Himmel
Ihrer Jugend wunderbaren Glanz.

 

Funkelnd lagen ihre blauen Seen,
Ihre Ströme zwischen Wiesenufern.
Rauschen ging durch ihre lichten Wälder,
Große Vögel folgten ihrem Flug.

 

Voll von jungen Tieren war die Erde.
Fohlen jagten auf den grellen Weiden,
Vögel reckten schreiend sich im Neste,
Gurrend rührte sich im Schilf die Brut.

 

Bei den roten Häusern im Holunder
Trieben Kinder lärmend ihre Kreisel.
Singend flochten sie auf gelben Wiesen
Ketten sich aus Halm und Löwenzahn.

 

Unaufhörlich neigten sich die grünen
Jungen Felder in des Windes Atem,
Drehten sich der Mühlen schwere Flügel,
Neigten sich die Segel auf dem Haff.

Unaufhörlich trieb die junge Erde
Durch das siebenfache Licht des Himmels;
Flüchtig nur wie einer Wolke Schatten
Lag auf ihrem Angesicht die Nacht.

                        Marie Luise Kaschnitz

 

Genazzano

Genazzano am Abend

Winterlich

Gläsernes Klappern

Der Eselshufe

Steilauf die Bergstadt.

Hier stand ich am Brunnen

Hier wusch ich mein Brauthemd

Hier wusch ich mein Totenhemd.

Mein Gesicht lag weiß

Im schwarzen Wasser

Im wehenden Laub der Platanen.

Meine Hände waren

Zwei Klumpen Eis

Fünf Zapfen an jeder

Die klirrten.

                        Marie Luise Kaschnitz

 

Ich fasse zusammen:

Oft gibt Lyrik Antworten auf Fragen, öffnet die Tür zu einer intuitiven Einsicht und damit zu einem MEHR an KLARHEIT.

Günter Eich: „Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren.”

 

 

AUSSAGE 7: LYRIK tut der Seele gut. 

  • durch dieses Mehr an Klarheit, gewonnen aus intuitiver Einsicht
  • durch das Erfahren von Solidarität im Schmerz
  • durch Trost

Lyrik tut der Seele gut: durch das Erfahren von Solidarität im Schmerz.

Dazu einige Gedichte über die Liebe und all den Kummer, der mit ihr verbunden sein kann.

 

Herbst

Die Tage werden allmählich kürzer,

der Regen wird bald einsetzen.

Meine Tür, sperrangelweit offen, wartete auf dich.

                        Warum bist du so spät gekommen?

 

Auf meinem Tisch Pepperoni, Salz und Brot.

Den Wein, den ich in meinem Krug für dich aufhob,

trank ich bis zur Hälfte allein,

                        während ich auf dich wartete.

                             Warum bist du so spät gekommen?

                        Nazim Hikmet

 

Magere Kost

Ich lege mich hin,

ich esse nicht und schlafe nicht,

ich gebe meinen Blumen

kein Wasser.

Es lohnt nicht den Finger zu heben.

Ich erwarte nichts.

 

Deine Stimme die mich umarmt hat,

es ist viele Tage her,

ich habe jeden Tag

ein kleines Stück von ihr gegessen,

ich habe viele Tage

von ihr gelebt.

Bescheiden wie die Tiere der Armen

die am Wegrand

die schütteren Halme zupfen

und denen nichts gestreut wird.

 

So wenig, so viel

wie die Stimme,

die mich in den Arm nimmt,

mußt du mir lassen.

Ich atme nicht

ohne die Stimme.

                        Hilde Domin

Spaziergang zu jeder Jahreszeit

Noch Arm in Arm

entfernen wir uns voneinander.

 

Bis eines Wintertags

auf dem Ärmel des einen

nur noch Schnee liegt.

                        Rainer Kunze

 

Vor deinen Segeln

Wie ich dein Boot bin,

kannst du meines sein.

 

Spann dein rotes auf mein blaues Segel.

 

Pflanz den Mond ins Meer

und lache, wenn ich weine.

 

Sei ein guter Steuermann,

wenn ich langsam sinke,

vor deinen Segeln sinke,

mit meinem Boot

vor deinem.

                        Peter Härtling

 

Gedichte sprechen nicht selten auch direkt von Trost.

 

Ehmals und jetzt

In jüngern Tagen war ich des Morgens froh,
Des Abends weint’ ich: jetzt, da ich älter bin,
Beginn’ ich zweifelnd meinen Tag, doch
Heilig und heiter ist mir sein Ende.

                        Friedrich Hölderlin

 

Nach dieser Sintflut

Nach dieser Sintflut

möchte ich die Taube,

und nichts als die Taube,

noch einmal gerettet sehn.

 

Ich ginge ja unter in diesem Meer!

flög‘ sie nicht aus,

brächte sie nicht

in letzter Stunde das Blatt.

                        Ingeborg Bachmann

 

 

 

 

Das Glück des Reisenden ist dass Hoffnung

Der Zwilling ist der Hoffnungslosigkeit 

 

Wenn der Himmel ergraut

Und ich plötzlich eine Rose blühen sehe

Aus den Rissen in der Mauer 

So sage ich nicht der Himmel sei grau

Sondern betrachte lange die Rose

Und ich sage ihr: Welch ein schöner Tag

                        Mahmoud Darwish

Aus: „Der Würfelspieler“

 

Jenseits

Wir werden nichts erfahren,

was wir nicht hier schon ahnen,

nur nicht zu glauben wagen.

Wir werden leise seufzen

und sagen: Also doch…

 

Der große Engel, welcher

von meinem Bette aufflog,

als ich drei Jahre alt war,

wird mir entgegenlächeln:

Lang hast du mich vergessen!

Und ich, ich werde schluchzen:

Es gibt dich

also doch!

Erika Mitterer

 

AUSSAGE 8: LYRIK ist Musik.

Aus Betroffenheit singen  –  Lyrik ihrem Wesen nach MUSIK (Name: „lyrikos“ – zur Lyra/Leier gehörig; Gesprochenes oder Gesungenes mit Leierbegleitung)

Gedicht lebt von …

  • seinem Rhythmus / seinem Klang / seiner Melodie

Naheliegend, dass Gedichte sehr oft auch vertont wurden/immer noch vertont werden.

Beispiel: Heinrich Heines „Du bist wie eine Blume“ – Liedfassung von Robert Schumann

 

Du bist wie eine Blume,

So hold und schön und rein;

Ich schau dich an, und Wehmut

Schleicht mir ins Herz hinein.

 

Mir ist, als ob ich die Hände

Aufs Haupt dir legen sollt,

Betend, daß Gott dich erhalte

So rein und schön und hold.

                        Heinrich Heine

 

Dass die Lyrik ein Instrument von universaler Aura ist, werden Sie erleben, wenn Sie die Vertonung des Heine-Gedichts durch Mikis Theodorakis hören werden. Man muss nicht Griechisch können, um die Aura dieses Gedichts zu spüren, die Botschaft zu ahnen.

 

Maja Haderlap spielt in ihrem Liebesgedicht „appassionata“ gekonnt mit Begriffen aus der Musiktheorie.

 

appassionata

wenn deine stimme mein ohr betritt,

fährt mein lethargisches herz aus dem

schlaf. mein gehörarm zieht dich an mich,

um in den tiefen deines atems das vertraute

beben zu fassen, das am verlöschen ist,

und zu beginn unser präludium war.

im nu fliegen meine worte auf, zu einem

orchester angewachsen. jeder satz eine

verheißung, eine appassionata, will mehr

sein, als nur gesagt. komm in mein ohr,

hier wirst du mit magna voce empfangen,

mit allen sinnen geschaut! sogar dein

abschiedswort ist ein heller akkord, eine

zärtliche coda mit retardierendem klang.

                        Maja Haderlap  

 

AUSSAGE 9: LYRIK ist ein Innehalten.

 

Rilke fasst den Vorgang, der zum lyrischen Schreiben führt, treffend in seinen “Notizen zur Melodie der Dinge” zusammen.

Sein Satz über das Hineinhorchen in die Welt als Voraussetzung für sprachkünstlerisches Gestalten ist übertragbar auf das Hineinhorchen in ein Gedicht:

 

“Sei es das Singen einer Lampe oder die Stimme des Sturms, sei es das Atmen des Abends oder das Stöhnen des Meeres, das dich umgibt – immer wacht hinter dir eine breite Melodie, aus tausend Stimmen gewoben, in der nur da und dort dein Solo Raum hat.”

 

 

Interview

Wenn er kommt, der Besucher,

Der Neugierige und dich fragt,

Dann bekenne ihm, daß du keine Briefmarken sammelst,

Keine farbigen Aufnahmen machst,

Keine Kakteen züchtest.

Daß du kein Haus hast,

Keinen Fernsehapparat,

Keine Zimmerlinde.

Daß du nicht weißt,

Warum du dich hinsetzt und schreibst,

Unwillig, weil es dir kein Vergnügen macht.

Daß du den Sinn deines Lebens immer noch nicht

Herausgefunden hast, obwohl du schon alt bist.

Daß du geliebt hast, aber unzureichend,

Daß du gekämpft hast, aber mit zaghaften Armen.

Daß du an vielen Orten zuhause warst,

Aber ein Heimatrecht hast an keinem.

Daß du dich nach dem Tode sehnst und ihn fürchtest.

Daß du kein Beispiel geben kannst als dieses:

Immer noch offen.

                        Marie Luise Kaschnitz

 

Ich darf den erhellenden Wert der Begegnung mit Gedichten abschließend so zusammenfassen:

Jedes Hineinhorchen in ein Gedicht bedeutet

  • ein Innehalten
  • ein Sich-Zeit-Nehmen,
  • ein Sich-Öffnen für die Intuition

führt zu

  • einem Mehr an Aufmerksamkeit
  • einem Mehr an Bewusstheit
  • und damit zu einem Mehr an Lebensintensität.

Damit bietet sich Lyrik an als wertvolle Orientierungshilfe auf unserem Weg zur persönlichen Menschwerdung.

 

 

 

 

 

 

Meine „CODA“:

 

Lesezeit

Der Wortwald steht

Licht fällt ein

Buchstaben werfen Schatten

Roden Pflanzen Roden

Warten auf Beerenpflücker

Magdalena Tschurlovits

 

Appell  –  ganz im Sinne dieses Gedichts:  Lesen Sie Gedichte! Werden Sie Beerenpflückerinnen und Beerenpflücker!

 

Eine Art Zusammenfassung:

Warum? – An diesem Gedicht kann fast alles demonstriert werden, was das Wesen von Lyrik ausmacht.

 

Willkommen und Abschied

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht.
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein getürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

 

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:

In meinen Adern welches Feuer!

In meinem Herzen welche Glut!

 

Dich sah ich, und die milde Freude
Floß aus dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft‘ es, ich verdient‘ es nicht!

 

Doch ach, schon mit der Morgensonne

Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!

In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!

                        Johann Wolfgang Goethe

Details

Datum:
29. Juni 2016
Zeit:
19:00 - 21:00
Veranstaltungskategorie:

Veranstaltungsort

Presseclub Concordia
Bankgasse 8
Wien, 1010

Veranstalter

PEN Austria