Dorothea Nürnberg: “Unter Wasser”

„Auftauchen aus den Fluten der Selbstentfremdung“

In ihrem Roman „Unter Wasser“ verknüpft Dorothea Nürnberg
die gigantische Zerstörung durch den Staudamm Belo Monte
mit Prozessen existentieller Befreiung.

 

Schon der Titel „Unter Wasser“ verweist auf die Vieldeutigkeit des Symbols Wasser. In ihrem jüngsten Roman spürt Dorothea Nürnberg – ausgehend von der „500 Jahre währenden Geschichte der Vernichtung der indigenen Völker Brasiliens“, die im Staudammprojekt Belo Monte „einen neuen Höhepunkt“ (S. 155) erreichen wird – C. G. Jungs Deutung des Elements Wasser nach, die als Motto dem Roman vorangestellt ist:

„Wasser ist ein Symbol für das Unbewusste, (…) Man muss tief in dieses Wasser hineintauchen, um aufzusteigen, zu verstehen.“ (S. 5)

Dramaturgisch überzeugend verknotet die Autorin die Lebensgeschichten mehrerer Personen zu einem spannenden Erzählteppich, der von Wien über Graz nach Altamira am Amazonas, Mexico City und Sao Paulo reicht. Jede der Figuren verkörpert zunächst eine eher verfahrene, mitunter erstarrte Existenzmöglichkeit: Chantal, engagierte Mitarbeiterin der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, erliegt dem Charme und Luxus Peter Grabners, Vorstandsmitglied und Miteigentümer jenes Konzerns, der maßgeblich an der Umsetzung des weltweit umstrittenen Staudammprojekts beteiligt ist; Paulo, Mitarbeiter im Planungsteam des brasilianischen Energielieferanten, der das Projekt koordiniert, begegnet der jungen Iracema, Angehörige des indigenen Stammes der Kayapo; Diego, Künstler und Fotograf, bricht in den Regenwald Amazoniens auf, um „jene untergehende Welt am Rio Xingu“ und die „Lebenswelt der Uferbewohner“ (S. 75), denen eine gewaltsame Umsiedlung droht, zu dokumentieren; und da ist auch noch Anna in Graz, Peters betrogene Ehefrau und Mutter von drei Kindern, die in ihrer Rolle als duldende Frau sich selbst und ihre Lebenspläne sträflich zurückgestellt hat. Fünf dieser sechs Figuren erfahren im Verlauf der Geschichte folgenreiche Wandlungen, finden mehr oder weniger zu sich selbst.
Peters Charakterstruktur verändert sich nicht: Blind für die Zerstörungen, die er anrichtet, bleibt er seiner Lebensmaxime treu und lebt sie auf Kosten anderer rücksichtslos aus. Seine von Chantal ausgelöste Reise „aus seinem wohlgefügten, luxuriösen Dasein ans andere Ende der Welt, (…) in die Wildnis, die Barbarei“ (S. 29) bleibt eine Episode, wird zur „absurdesten Reise seines Lebens“ (S. 193). Seine Gegenspielerin, der er nie begegnet, ist die aztekische Heilerin Maria Jolanta in Mexico City. Auf sie trifft die „an den Rand eines psychischen Abgrunds getriebene” (S. 171) NGO-Aktivistin Chantal, der „die innere Heimat abhanden gekommen“ ist (S. 141), und erfährt durch diese eine tiefgreifende „Heilung“, die sie künftig selbstbewusst den Weg gehen lassen wird, den ihr Innerstes ihr weist. Mit einem Brief öffnet sie Anna in Graz die Augen und versetzt sie dadurch in die Lage, sich aus ihrer demütigenden Bindung an Peter zu befreien und „wieder ein Ziel vor Augen“ (S. 182) zu sehen.
Iracema, die Tochter eines Kayapo Schamanen, ist in die Stadt gezogen, um in einer indianischen Dachorganisation für die Rechte ihres Volkes zu kämpfen:

„Seit Iracema in Altamira lebte, litt sie unter innerer Vereinsamung, vermisste sie die lebensvibrierende Fülle der Natur, das traute Beisammensein von Mensch und Tier, das in ihrem Dorf einen wichtigen Bestandteil des Lebens ausmachte.“ (S. 64)

Angesichts der Hoffnungslosigkeit ihres Einsatzes will sie in den Stromschnellen des Amazonas ihrem Leben ein Ende setzen, doch Paulo rettet sie. In der Begegnung mit dieser Frau lernt er die Lebensweise der Kayapo verstehen und ist fortan nicht mehr bereit, das Staudammprojekt mitzutragen:

„Ein waghalsiger Sprung in die Fluten des Rio Xingú und sein Weltbild, sein Denken war zurechtgerückt worden.“ (S. 101)

Das alles erzählt Dorothea Nürnberg in einer rastlos drängenden Sprache, in der sowohl die psychischen und geistigen Umbrüche der Figuren als auch das rasende Tempo der Zerstörung zu spüren sind. Ihre Sprache hat es aber auch in sich, in der „Amazonischen Symphonie“ einen hymnischen Lobpreis auf den Regenwald zu singen:

„Langsam schält sich die Sonne aus dunklen Wolken.

     Adagio – verebbende Klangkaskaden in dampfenden Nebeln, Farbkaskaden, sich weitend, schimmernd, schillernd, Smaragd, Saphir, Turmalin.

     Das Rauschen des Flusses – Moderato – Sostenuto.

     Doch plötzlich Stromschnellen, Wasserfälle, schillernd, wirbelnd, berauschend schön – Vivacissimo, Prestissimo – jagende, rasende, rauschende, sich überschlagende, dahinjagende Klänge, hochauffliegend zwischen Felsen aufbrandende Gischt. (…)

     In die Nacht gleitende, niemals verklingende, stets neue Klänge erfindende, vibrierende Lebenssymphonie.“ (S. 85f.)

Überzeugend funktional auch die Erzähltechnik: Die Geschichte entfaltet sich multiperspektivisch. Mit ausgedehnten Passagen in erlebter Rede erzählt jedes der 23 Kapitel aus der personalen Perspektive einer der Figuren. Thematisch und atmosphärisch angereichert werden die Kapitel durch Motti, die aztekischen Texten entnommen sind.
Dieses stimmige Ineinander von Plot, Sprache und Erzähltechnik lässt einen beachtlichen Sog entstehen, der erst im letzten Drittel etwas an Überzeugungskraft einbüßt, wenn in der Erzählung von der „Heilung“ Chantals die Diktion bisweilen ins Esoterische abzugleiten droht.
Schon nach wenigen Kapiteln wird eines offenkundig: Dorothea Nürnberg geht es nur vordergründig um eine Beziehungsgeschichte; sie wird erzählt, um das fundamentale Gegenüber zweier Lebensweisen zu thematisieren und die Tatsache zu diskutieren, dass die westliche Industriegesellschaft Ergebnis einer fatalen Selbstentfremdung ist.

„In Wahrheit jedoch hüteten die indigenen Völker den Wald, schützten sie die Natur, bewahrten sie das Wissen um deren Gesetze – waren sie Hüter und Wächter der Erde und des Himmels (…) Die Weißen hatten den Bezug zu ihrer Mutter, der Erde verloren, ebenso wie zu ihren Geschwistern, den Tieren, Pflanzen, Bäumen – dem Regenwald.“ (S. 64)

Im Staudamm Belo Monte und seinem Homo Faber Peter manifestiert sich das Potential an Zerstörung, das dieser westlichen Lebensweise innewohnt; diametral anders die aztekische Heilerin Maria Jolanta und das Volk der Kayapo: Sie leben aus der Einsicht in eine kosmische Einheit:

„Steine, Erde, Wasser, Pflanzen, Sonne, der Mond, der Baum, die Schlange, der Bär und der Adler sind uns heilig. Vergesst es nicht, vergesst es niemals. Auch ihr seid ein Teil davon.“ (S. 130)

In der vielschichtigen Wasser-Symbolik erfährt der Roman seine Verdichtung. Durch den Staudamm am Rio Xingú – der Name bedeutet „klares, reines Wasser“ (S. 102) – werden die Kayapo ihre Lebensgrundlagen verlieren:

„Der Fluss ist unsere Mutter, unser Vater, er gibt uns Nahrung, Freude, Leben – und er trägt uns nach Hause.“ (S. 102)

Ambivalent wie bei jedem Symbol sind die Konnotationen, die das Wasser in diesem Roman mit sich führt: Es ist sowohl zerstörende Flut als auch reinigende Sintflut und Element der Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung:

„Anna begann aufzutauchen aus den Fluten der Selbstentfremdung. Begann wieder zu sehen und die labyrinthartigen Verirrungen auf ihrem Lebensweg zu erkennen.“ (S. 180)

Die Essenz ihres Romans zusammenzufassen überlässt Dorothea Nürnberg der „Heilerin“ Maria Jolanta, die in einer langen Rede die Weisheit indigener Völker erläutert:

„Wir indigenen Völker wissen, dass alles Leben in Einheit, Einklang pulsiert, dass mit jedem Lebewesen, jeder Art, die auf dieser Erde ausgerottet, vernichtet wird, auch ein Teil von uns selbst verloren geht. Wir Menschen können nicht gegen die Natur, die Gesetze des Kosmos, des Geistes verstoßen, ohne gleichzeitig auch uns selbst zu vernichten.“ (S. 210)

Angesichts der dramatischen Entwicklung, der der Planet Erde infolge vielfältigster Zerstörungen unterworfen ist, muss der Autorin für diesen Text gedankt werden, der in letzter Konsequenz zum Appell wird, die „eigene Wahrnehmung zu hinterfragen“ und „konditionierte Denkmuster zu weiten“ (S. 238) – dies  auch dann, wenn wir meinen, dass es ohnehin schon zu spät ist.

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