„Ich tappe sozusagen nach mir herum.“ Anmerkungen zu Arthur Schnitzlers Suche nach Koordinaten im Chaos

„Ich lebe jetzt colossal dumm. Planlos. Ich mache Zoologie, Botanik, Anatomie, Geschichte, Poesie, Musik, lese, spiele Schach, Billard, esse Guglhupf, Mohnkipfl, werfe lüsterne Seitenblicke auf die Politik, plaudere (…), gehe in Conzerte, Vorlesungen, Bälle – und liebe!“[1]
Der Medizinstudent Arthur Schnitzler ist noch nicht 18, als er am 11. März des Jahres 1880 diesen „Befund“ in sein Tagebuch schreibt. Der Eintrag lässt vermuten, dass der Verfasser schon sehr früh ein ausgesprochen selbstkritischer junger Mann ist, der – ausgehend von regelmäßiger Selbstbeobachtung und deren Niederschlag in einem konsequent geführten Tagebuch – zu schonungsloser Selbstanalyse neigt, eine Lebenshaltung, die für den künftigen Schriftsteller eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration werden wird. Noch aber bestimmt Verwirrung den Kopf des Studenten, dem mitunter nicht klar ist, „was und wer“[2] er ist: Er fühlt sich unwiderstehlich zum Dichter geboren und muss diese „Berufung“ einem Vater gegenüber vertreten, der von seinem Sohn eine ordentliche Karriere als Mediziner in der Metropole des Reiches erwartet – Voraussetzungen für eine vermutlich heikle Vater-Sohn-Konstellation. Derselbe Vater ist auch keine Hilfe, als sein Sohn bei einer „vertrauteren Unterhaltung“ nach einem Theaterbesuch wissen möchte, wie ein junger Mann seiner Zeit mit der herrschenden Sexualmoral umzugehen habe, deren Verlogenheit für ihn ein weiterer Anlass zu Verwirrung und Ratlosigkeit ist. Als Arthur seinen Widerwillen äußert, sich bei Prostituierten sexuelle Erfahrung zu holen, antwortet der Vater „mit einer erledigenden Handbewegung (…) einfach und dunkel zugleich: ‚Man tut es ab.‘“[3] Damit ist dem in sich zerrissenen Studenten natürlich nicht geholfen, der entschlossen ist, etwas Klarheit in sein Leben zu bringen:
„Nun, es kommt bald die Zeit, in welcher ich mir Gewissheit über mich selbst verschaffen werde. Warte Kerl, ich muss dir noch auf den Grund kommen!“[4]
Arthur ist ein Suchender, er beobachtet mit wachen Augen und kritischem Kopf nicht nur sich selbst, sondern auch seine Welt, und in der stehen viele Zeichen auf Auflösung und Zerfall – Verunsicherung, soweit das Auge reicht!
Und da ist dann noch das schon während des Studiums erwachende Interesse für Traum und Hypnose, das in ihm eine nicht mehr versiegende Faszination für das Unbewusste im Menschen auslöst. Über dieses „weite Land“ der Seele trifft Arthur Schnitzler immer wieder bildkräftige Aussagen:
„Gar oft seit diesen Tagen, auf der Fahrt über dunkle Lebensfluten, war ich versucht, das Senkblei oder gar den Anker auszuwerfen – ohne daß mir Gewißheit wurde, ob er auf den Grund meines Wesens gegriffen, sich in eine trügerische Sandbank eingegraben oder gar nur in rätselvolles Pflanzenschlingwerk verstrickt hatte.“[5]
Wie beunruhigend, ja bedrohlich dieses Dunkel der Seele Schnitzler entgegentritt, bringt Doktor von Aigner, eine tragische Vater-Figur aus dem „Weiten Land“, auf den Punkt:
„So vieles hat zugleich Raum in uns -! Liebe und Trug … Treue und Treulosigkeit … Anbetung für die eine und Verlangen nach einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches … Das Natürliche … ist das Chaos.“[6]
Chaos! – Wenn der Dramatiker hier auf das Wort „Chaos“ setzt, verweist er zunächst auf dessen griechische Grundbedeutung: gestaltlose Urmasse, unendlicher leerer Raum. Gleichzeitig schwingt aber auch die ambivalente Konnotation „gähnende Kluft zwischen Himmel und Erde“, also jener Spannungsbogen mit, dem Menschen ausgesetzt sind. Es ist dieses „Chaos“, dem Schnitzler als Arzt und Dichter sich zuwendet, von dessen Reiz er nicht mehr loskommt. Bis ins Spätwerk bleiben Traum und Hypnose bestimmende Motive, tauchen Figuren hinab in das Dunkel ihrer Seele, in ihren „Jardin secret“[7] und sind – wie das Paar Fridolin und Albertine in der 1925 erschienenen „Traumnovelle“ – erleichtert darüber, „die innerste Wirklichkeit“[8] nur im Traum durchlebt zu haben.
Derlei Erleichterung beschert auch das letzte Lebensjahrzehnt Arthur Schnitzler nicht: Zunehmend düster und einsam wird sein Privatleben, krisenanfällig die künstlerische Arbeit, denn der Autor wird in der Spätphase seines Lebens noch von der unter den Intellektuellen seiner Zeit grassierenden Sprachskepsis erfasst. Eine seiner letzten Prosa-Arbeiten – sie trägt den bezeichnenden Titel „Ich“ – belegt, dass dem wortgewaltigen Dramatiker und Erzähler das Vertrauen in die Sprache zunehmend abhandenkommt. In der „Novelette“ wird auf wenigen Seiten erzählt, wie der Abteilungsleiter eines Warenhauses in der Währingerstraße gleichsam über Nacht in den Abgrund einer veritablen Sprachkrise stürzt. Herr Huber, „ein bis zu diesem Tage völlig normaler Mensch“[9], verliert aus nichtigem Anlass die Sicherheit, von einem sprachlichen Zeichen zweifelsfrei auf das Bezeichnete zu schließen. Hand in Hand mit dieser Verunsicherung geht der Verlust der Fähigkeit, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.
„Er war nur drei Minuten dagesessen, ja, dies war bestimmt eine Uhr, wenn auch auf dem Deckel nicht eingegraben stand, daß sie eine war. Aber es konnte ja auch sein, daß er träumte. Dann war das keine Uhr, dann lag er im Bett und schlief und auch die Eintagsfliege war nur ein Traum. (…) Man sollte die Kleinen rechtzeitig daran gewöhnen, von allen Dingen und Menschen auch zu wissen, wie sie heißen. Welche ungeheure Verwirrung war in der Welt. Niemand kennt sich aus.“[10]
Wie Ordnung finden im Chaos? Diese Frage treibt den Abteilungsleiter Huber zu Aktionen, die ihn schließlich zu einem medizinischen Fall werden lassen; und sie dürfte Arthur Schnitzler Zeit seines Lebens bewegt, bisweilen gequält haben. Der an naturwissenschaftlichen Methoden geschulte, schreibende Mediziner ist besessen von dem Wunsch, das Mysterium Mensch zu sezieren und mit seinen „Studien“ Ordnung in das Chaos zu bringen. Vertraut man dem Spiegel seiner Aphorismen und Tagebücher gelangt Schnitzler zu einem ernüchternd kargen Befund: Im „Chaos“ menschlicher Existenz findet er nur zwei KoORDinaten, die so etwas wie Orientierung oder die Andeutung einer ORDnung bieten: Die eine KoORDinate ist der Tod; er ist biologisch determiniert, liegt jenseits menschlicher Steuerung, tritt aber in den Erzählungen und Dramen des Autors markant in Erscheinung; die andere ist für Schnitzler – so hat es den Anschein – ausschlaggebend für unser aller „Menschwerdung“: Es ist die Verantwortung, ausgehend von der Annahme eines freien Willens.
„Ohne unseren Glauben an den freien Willen wäre die Erde nicht nur der Schauplatz der grauenhaftesten Unsinnigkeit, sondern auch der unerträglichsten Langeweile. Verantwortungslosigkeit hebt jede ethische Forderung, kaum daß sie ins Bewußtsein trat, als wesenlos wieder auf; das Ich ohne das Gefühl der Verantwortung wäre überhaupt kein Ich mehr, die Erde kein Schauplatz von Tragödien und Komödien, die sich zwischen Individuen abspielen, sondern ein läppisches oder trauriges Possenspiel zwischen freiwaltenden Trieben, die sich zufällig in dem einen oder andern Individuum verkörpern.“[11]
Ein enorm hoher Anspruch findet hier seinen Ausdruck. Er macht – zusätzlich zur außergewöhnlichen Sprachkunst – die Zeitlosigkeit Arthur Schnitzlers aus. In seinen literarischen Texten kreisen die Figuren letztlich immer um die Frage der Verantwortung; auf sie spitzt beispielsweise der Arzt und Berufskollege Professor Bernhardi in der gleichnamigen Komödie seinen Konflikt zu.

„BERNHARDI: Das Problem war nicht mehr österreichische Politik oder Politik überhaupt, sondern es handelte sich plötzlich um allgemein ethische Dinge, um Verantwortung und Offenbarung, und im letzten und entscheidenden Sinn um die Frage der Willensfreiheit.
HOFRAT: Ja, darauf läuft’s am Ende immer hinaus, wenn man den Dingen auf den Grund geht.“[12]

VerANTWORTung, das ist für Schnitzler die dem Menschen gemäße „Antwort“ auf all die offenen Fragen seiner Existenz; es ist jene ethische Grundhaltung, die das Ich erst zum Ich werden lässt und die schon damals, bei der „vertrauteren Unterhaltung“ nach einem Theaterbesuch, den Sohn jene Frage stellen lässt, auf die der ratlose Vater eine klärende Antwort verweigert. Solcherart allein gelassen wird der Student Arthur Schnitzler auf seiner Suche künftig seiner Intuition als Dichter mehr vertrauen als den wenig hilfreichen Antworten einer brüchigen Zeit.

[1] „Arthur Schnitzler Tagebuch“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1981 (11. März 1880)

[2] „Arthur Schnitzler Tagebuch“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1981 (7. Mai 1885)

[3] Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Fischer Taschenbuch Verlag 1981, S. 279

[4] „Arthur Schnitzler Tagebuch“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1981 (7. Mai 1885)

[5] Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Fischer Taschenbuch Verlag 1981, S. 190

[6] Schnitzler, Arthur: Liebelei und andere Bühnenwerke, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, S. 412

[7] Schnitzler, Arthur: Aphorismen und Betrachtungen. Hrsg. V. Robert O. Weiss, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1967

[8] Schnitzler, Arthur: Traumnovelle, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 103

[9] Schnitzler, Arthur: Ich. – In: Arthur Schnitzler. Das große Lesebuch. Fischer Taschenbuch Verlag 2005, S. 240

[10] Schnitzler, Arthur: Ich. – In: Arthur Schnitzler. Das große Lesebuch. Fischer Taschenbuch Verlag 2005, S. 243ff.

[11] Schnitzler, Arthur: Aphorismen und Betrachtungen. Hrsg. V. Robert O. Weiss, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1967

[12] Schnitzler, Arthur: Liebelei und andere Bühnenwerke, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, S. 578

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